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„Jeden Tag bröckelt ein Stück von mir weg …“ 

Depressive ältere Frau zu Hause fühlen sich traurig. Ältere Frauen sehen traurig außerhalb des Fensters aus. Depressive einsame Dame, die allein steht und durch das Fenster schaut.
Depressive ältere Frau zu Hause fühlen sich traurig. Ältere Frauen sehen traurig außerhalb des Fensters aus. Depressive einsame Dame, die allein steht und durch das Fenster schaut.

So fühlen sich Menschen mit einer demenziellen Beeinträchtigung, weiß Raphael Schönborn. Er ist Geschäftsführer von PROMENZ, einer österreichweiten Initiative von und für Menschen mit Vergesslichkeit, Demenz und Alzheimer sowie deren An- und Zugehörige. Im Interview spricht er mit uns darüber, wie ein „Leben mit Demenz“ herausfordert – Betroffene, Menschen in ihrem Umfeld, die Gesellschaft.

Raphael Schönborn, MA
Geschäftsführer Promenz

Raphael Schönborn, MA

© Miriam Eberhard

Geschäftsführer Promenz

Warum geht Demenz uns alle an?

Weil sie jede:n treffen kann. Laut dem jüngsten Demenzbericht schätzungsweise 170.000, wobei wir von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgehen. Angesichts unserer stark alternden Gesellschaft rechnen wir mit einem erheblichen Anstieg dieser Zahl. 

Und weil wir heute Risikofaktoren kennen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an einer Form der Demenz zu erkranken. Wir wissen, dass sich Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht (Frauen sind stärker betroffen als Männer) oder genetische Veranlagung nicht beeinflussen lassen. Doch wir wissen auch, dass ein gesunder Lebensstil Demenz vorbeugen kann. 

Was sind die Herausforderungen, vor die uns das „Leben mit Demenz“ stellt?

Für die Betroffenen ist Demenz etwas Bedrohliches für ihr Selbst, denn sie zerstört die eigene Identität. Eine Betroffene sagte mir kürzlich: „Es ist so schrecklich. Ich erlebe offenen Auges, wie das, was mich ausmacht, meine Eigenschaften, mir wegbröckelt. Ich verliere Teile von mir selbst – und kann nichts dagegen machen.“ 

Dabei hat diese Frau die wohl größte Hürde schon genommen: Sie hat sich ihre Demenz eingestanden und spricht offen darüber. Das gelingt nur wenigen. Der Großteil der Betroffenen kann das nicht. Das ist ein Problem, das in unserer Leistungsgesellschaft wurzelt: Wer wegen seiner im Zuge der fortschreitenden Demenz nachlassenden geistigen Fähigkeiten (Gedächtnis, Orientierung, Denkvermögen, Urteils- und Entscheidungskraft, Lernfähigkeit, Konzentration, Sprache) weniger leistet, erfährt eine Abwertung. Die wird als Versagen, als Defizit, als Makel vermittelt – und auch so empfunden. Schlimmer noch: Die Abwertung geht mit einer Entmündigung und Entwürdigung einher. Die Gesellschaft spricht Menschen mit demenziellen Beeinträchtigungen Selbstbestimmungsrechte ab. Das will keine:r erleben! Und so verstecken Betroffene sich vor sich selbst und vor der Gesellschaft: Sie verdrängen die ersten Anzeichen ihrer Demenz. Das ist ihre Bewältigungsstrategie. Da die Krankheit jedoch rücksichtslos voranschreitet, verzögert das Verdrängen die frühe Diagnose und verhindert somit auch wirkungsvolle Gegenmaßnahmen – und die gibt es!

Ihr gemeinnütziger Verein wendet sich auch an die An- und Zugehörigen von Menschen mit Demenz – vor welche Herausforderungen stellt sie das „Leben mit Demenz“? 

Sie tragen aktuell die größte Last. Unsere Gesellschaft kommt heute schon an die Grenzen des Machbaren, wenn es um die Versorgung von Menschen mit demenziellen Beeinträchtigungen geht. Es fehlt uns an Menschen, die sich kümmern. Die aktuelle Lösung des Fachkräftemangels im Gesundheits- und Pflegesystem? Wir verschieben die Pflege ins Private, in die Familien. Die sind mit der Aufgabe jedoch schnell überfordert, denn die Pflege eines Menschen mit Demenz ist ein 24/7-Job, der sich mit gutem Willen und Liebe allein nicht machen lässt. Die An- und Zugehörigen brauchen Zeit, Fachwissen und Anleitung. Wir beobachten, dass Pflegende sich mit ihrem unbezahlten Pflegejob on top zu ihren alltäglichen Aufgaben oft übernehmen: Sie bekommen selbst gesundheitliche, finanzielle und soziale Probleme. Hinzu kommt, dass die Zahl der pflegenden Angehörigen mit dem Altern der Gesellschaft rapide abnimmt.

Was raten Sie denen, die an sich Anzeichen von Demenz spüren, und denen, die diese an ihren Lieblingsmenschen beobachten?

Betroffenen rate ich, erste Anzeichen für eine mögliche demenzielle Beeinträchtigung unbedingt abklären zu lassen. Sollte Ihnen eine Demenz diagnostiziert werden, lassen Sie sich beraten und schließen Sie sich einer Selbsthilfegruppe an: Der Austausch mit anderen Betroffenen hilft sehr beim Bewältigen des Lebens mit Demenz. An- und Zugehörigen rate ich tunlichst, sich zu informieren und beraten zu lassen. Docken Sie an die Unterstützungssysteme an! So können Sie sich auf das „Leben mit Demenz“ vorbereiten. Denn niemand wird als Pfleger:in von An- und Zugehörigen geboren! 

Sie sprechen tagtäglich mit Betroffenen: Was wünschen sich Menschen mit Demenz?

Betroffene wünschen sich vor allem Verständnis – auf allen Ebenen. PROMENZ hat dazu ein Verständnis-Modell entwickelt. Es zeigt demenzielle Beeinträchtigungen, Bewältigungsstrategien, Wünsche und Bedürfnisse aus Sicht der Betroffenen auf geistiger, körperlicher, emotionaler, sozialer und struktureller Ebene. Das zugehörige Arbeitsblatt kann in Gesprächen zwischen Betroffenen und ihrem Umfeld für mehr Verständnis sorgen. 

10 erste Anzeichen für eine demenzielle Beeinträchtigung

  1. Gedächtnisprobleme/Vergesslichkeit
  2. Schwierigkeiten beim Planen und Problemlösen
  3. Probleme mit gewohnten Tätigkeiten
  4. Räumliche und zeitliche Orientierungsprobleme
  5. Wahrnehmungsstörungen
  6. Neue Sprach- und Schreibschwäche
  7. Verlegen von Gegenständen
  8. Eingeschränktes Urteils- und Entscheidungsvermögen
  9. Verlust von Eigeninitiative und Rückzug
  10. Veränderungen von Persönlichkeit und Verhalten

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